Digitale Unsterblichkeit: Wenn Trauer auf KI trifft
Von der Erinnerung zum Avatar
Die Grundidee ist so einfach wie revolutionär: Mit Hilfe von KI werden aus den Daten, die ein Mensch zu Lebzeiten hinterlassen hat, digitale Avatare erstellt – also virtuelle Abbilder des Verstorbenen. Nachrichten, Fotos, Videos, Sprachaufzeichnungen und Social-Media-Posts liefern das Material, um Persönlichkeit, Kommunikationsstil und individuelle Merkmale zu rekonstruieren.
Das Ergebnis: Verstorbene können im digitalen Raum weiterleben und mit ihren Angehörigen kommunizieren, als wären sie noch unter uns.
Wie sieht das in der Praxis aus? Drei Beispiele
Das Start-up „You, Only Virtual“ (YOV) erstellt lebensechte KI-gestützte Chatbots, mit denen Hinterbliebene am Bildschirm interagieren können. Diese so genannten „Versonas“ erwachen virtuell zum Leben, reagieren auf Fragen und antworten mit vertrauter Stimme. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto authentischer wird das digitale Ebenbild. Ziel ist es, das Gefühl von Nähe und Geborgenheit so realistisch wie möglich wieder aufleben zu lassen.
Die Technologie von „HereAfter AI“ ermöglicht es, noch zu Lebzeiten wichtige Erinnerungen und Gedanken als Audiodateien aufzuzeichnen. Nach dem Tod können Angehörige dann Fragen stellen und erhalten Antworten von der authentischen Stimme des Verstorbenen. Der Chatbot kann sogar auf Fragen antworten, die nicht direkt aufgezeichnet wurden, indem er den typischen Sprachstil und die Persönlichkeit der Person nachahmt.
In Südkorea zeigte eine Fernsehsendung bereits im Jahr 2020, was mit modernster Technik möglich ist: Mit einer Virtual-Reality-Brille konnte eine Mutter ihre verstorbene siebenjährige Tochter noch einmal „persönlich treffen“ – lächelnd, im Sommerkleid. „Mama, wo warst du?“, rief das Mädchen und lief mit ausgestreckten Armen auf die Mutter zu. Sie konnten miteinander sprechen, gemeinsam einen Geburtstagskuchen anschneiden und sich – wenn auch nur virtuell – wieder die Hände halten. Der Avatar des Kindes wurde über einen Zeitraum von acht Monaten aus Fotos, Videos und Tonaufnahmen programmiert.
Pro: Trost in Zeiten der Trauer
Psychologen, Technologie-Experten und auch Trauerbegleiter nennen verschiedene positive Aspekte, die solche KI-Anwendungen bieten können:
Kontinuierliche Verbindung: Für viele Trauernde ist der abrupte Kontaktabbruch durch den Tod besonders schmerzhaft. Ein digitaler Avatar könnte einen sanfteren Übergang ermöglichen und das Gefühl vermitteln, wichtige Dinge noch einmal sagen zu können.
Therapeutische Unterstützung: Die Interaktion mit einem KI-Avatar könnte eine therapeutische Wirkung haben, indem Hinterbliebene unausgesprochene Gefühle ausdrücken oder ungelöste Konflikte symbolisch klären können.
Erinnerungen und Wissen bewahren: Gerade für nachfolgende Generationen könnten digitale Ebenbilder eine Möglichkeit sein, Großeltern oder andere Familienmitglieder kennenzulernen, die sie nie persönlich getroffen haben. Kulturelles Wissen, Familientraditionen und persönliche Geschichten können so bewahrt werden.
Emotionale Unterstützung: Zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen oder Feiertagen, an denen der Verlust besonders schmerzlich sein kann, könnte ein Avatar emotionale Unterstützung bieten.
Contra: Ethische Bedenken und psychologische Risiken
Es gibt aber auch kritische Stimmen, die vor erheblichen Risiken warnen – nicht nur theoretischer Art, sondern aufgrund erster Beobachtungen von Trauernden:
Verzögerte Trauerverarbeitung: Die ständige Verfügbarkeit des digitalen Abbildes könnte den natürlichen Trauerprozess behindern. Zur Trauerverarbeitung gehört das Loslassen und das Akzeptieren der Endgültigkeit des Todes, was durch die kontinuierliche Kommunikation erschwert werden könnte.
Ethische Fragen: Wer entscheidet, ob ein Verstorbener als Avatar „weiterleben“ soll? Hätte die Person dem zugestimmt? Wie wird mit den sensiblen persönlichen Daten umgegangen? Und wer kontrolliert letztlich, was der Avatar sagt und tut?
Verfälschte Erinnerungen: KI-Systeme sind nicht perfekt. Sie könnten Antworten generieren, die die verstorbene Person niemals gegeben hätte, und so die Erinnerung an die Person verzerren oder verfälschen.
Kommerzielle Ausbeutung: Viele der „Grief Tech“-Angebote funktionieren als Abo-Modelle. Was passiert, wenn die Angehörigen finanziell nicht mehr in der Lage sind, das Abonnement zu bezahlen? Erleben Angehörige einen erneuten schmerzlichen Verlust, wenn der digitale Avatar plötzlich nicht mehr erreichbar ist?
Manipulation und Missbrauch: Digitale Doppelgänger könnten theoretisch auch zu Betrugszwecken missbraucht werden oder in falsche Hände geraten, was zu einem emotionalen Missbrauch von trauernden Angehörigen führen könnte.
Eine neue Dimension des Erinnerns
KI-Avatare sind der nächste Schritt zu einer neuen Form des Erinnerns und Abschiednehmens. So wie heute Menschen ans Grab gehen, um mit Verstorbenen zu sprechen, könnten sie in Zukunft mit einem Avatar kommunizieren, der mit vertrauter Stimme antwortet – eine neue Facette in der ewigen Suche des Menschen nach Verbindung über den Tod hinaus.
Diese Entwicklung birgt aber auch Gefahren: Die Qualität der Trauer könnte oberflächlicher werden, wenn wir die Endgültigkeit des Todes technologisch umgehen. Die Grenze zwischen Erinnerung und Illusion verschwimmt, und wir laufen Gefahr, in einer Zwischenwelt gefangen zu bleiben, statt den schmerzhaften, aber letztlich heilsamen Weg echter Trauerarbeit zu gehen.
Autor:
Jörg Zimmerling
Bildquelle: Pier Fax /AdobeStock_869325222
